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Fairer Handel und Gegenseitigkeit –
Angebote, die Erzeugnisse aus Drittländern umfassen

Informationsschreiben zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2014/25/EU über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung.

Fairer Handel und Gegenseitigkeit

Zuerst hat uns die COVID-19-Pandemie und dann im März ein im Suezkanal festgefahrenes Containerschiff die Abhängigkeit von weltweiten Lieferketten drastisch vor Augen geführt. Beide Ereignisse haben deutlich gemacht, dass einerseits eine verlässliche europäische Produktion Liefersicherheit gewährleistet, andererseits die Unterbrechungen der Lieferketten auch den Blick auf Länder geschärft haben, mit denen die EU jeweils ein Freihandelsabkommen abgeschlossen hat und solche, mit denen keine Freihandelsabkommen – sogenannte Drittländer – bestehen. Zu den Drittländern zählen z. B. China oder Indien.

Während die EU ihre öffentlichen Beschaffungsmärkte für Unternehmen aus Drittländern weitgehend geöffnet hat, gewähren viele dieser Staaten den EU-Unternehmen keinen vergleichbaren Zugang.

Teilweise unbekannt ist, dass öffentliche Auftraggeber in der EU aus dem Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung im Rahmen von Ausschreibungen für die Lieferung von Produkten gemäß der EU-Richtlinie 2014/25/EU [1] die Möglichkeit haben, Angebote aus Nicht-EU-Ländern abzulehnen, wenn der Anteil der aus Nicht-EU-Ländern stammenden Waren 50 % übersteigt, oder dem EU-Angebot den Vorzug zu geben, wenn die Preise gleichwertig sind (d.h. innerhalb einer Marge von 3 %).

Diese Handhabung ist durch die Umsetzung der EU-Richtlinie 2014/25/EC [1] in jeweils nationales Recht aller Mitgliedstaaten festgelegt. So wurde die EU-Richtlinie z. B. umgesetzt

 

  • in Deutschland: § 55 der Sektorenverordnung (SektVO) [2],
  • in Österreich: § 303 BVergG (Bundesvergabegesetz) [3],
  • in Frankreich: L.2153-1 ff. des französischen Gesetzbuchs über das öffentliche Auftragswesen,
  • in Belgien: art.154 – Loi du 17 JUIN 2016 relative aux marchés publics,
  • in Luxemburg: art. 147 – Loi du 8 avril 2018 sur les marchés publics,
  • in den Niederlanden: art. 3.76 – Aanbestedingswet 2012 – Geldend van 18-04-2019 t/m heden,
  • in Italien: Art 137, CODICE DEI CONTRATTI PUBBLICI Decreto legislativo 18 aprile 2016, n. 50, und
  • in Spanien: art. 70 “Bevorzugung von Gemeinschaftsangeboten bei Lieferverträgen”, Königliches Gesetzesdekret 3/2020, vom 4. Februar 2020 (https://www.boe.es/buscar/pdf/2020/BOE-A-2020-1651-consolidado.pdf). Am 28. Juni 2021 wurde dieses königliche Gesetzesdekret zusammen mit den übrigen EU-Richtlinien und -Gesetzen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftragswesen in das “Gesetzbuch für öffentliche Aufträge” aufgenommen (https://boe.es/legislacion/codigos/codigo.php?modo=1&id=031_Codigo_de_Contados_del_Sector_Publico).

Beispielhaft für die oben aufgeführten Rechtsvorschriften an dieser Stelle der Text aus § 55 SektVO zitiert:

  1. Der Auftraggeber eines Lieferauftrags kann Angebote zurückweisen, bei denen der Warenanteil zu mehr als 50 Prozent des Gesamtwertes aus Ländern stammt, die nicht Vertragsparteien des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum sind und mit denen auch keine sonstigen Vereinbarungen über gegenseitigen Marktzugang bestehen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gibt im Bundesanzeiger bekannt, mit welchen Ländern und auf welchen Gebieten solche Vereinbarungen bestehen.
  2. Sind zwei oder mehrere Angebote nach den Zuschlagskriterien gleichwertig, so ist dasjenige Angebot zu bevorzugen, das nicht nach Absatz 1 zurückgewiesen werden kann. Die Preise sind als gleichwertig anzusehen, wenn sie nicht um mehr als 3 Prozent voneinander abweichen. Satz 1 ist nicht anzuwenden, wenn die Bevorzugung zum Erwerb von Ausrüstungen führen würde, die andere technische Merkmale als die vom Auftraggeber bereits genutzten Ausrüstungen aufweisen und dadurch bei Betrieb und Wartung zu Inkompatibilität oder technischen Schwierigkeiten oder zu unverhältnismäßigen Kosten führen würde.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass öffentliche Auftraggeber darüber hinaus auch die Möglichkeit haben, neben der Bewertung der Wirtschaftlichkeit eines Angebotes auch andere Zuschlagskriterien, wie insbesondere qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte, bei der Vergabe von Leistungen vorzusehen. Durch den gezielten Einsatz derartiger Zuschlagskriterien ist es zumindest möglich, europäische Anbieter besser zu bewerten als Anbieter aus Drittländern.

Es sei darauf hingewiesen, dass die europäischen Netzbetreiber aus den Bereichen der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung bei konsequenter Anwendung der bestehenden Möglichkeiten zur Ablehnung von Angeboten mit Produkten aus Drittländern und/oder der Anwendung von geeigneten Zuschlagskriterien wesentlich dazu beitragen können

  • die in Europa zu europäischen Kriterien produzierenden Unternehmen zu schützen
  • qualifizierte Arbeitsplätze mit hohen Arbeitsschutz- und Sozialstandards zu erhalten und
  • Know-how in strategischen Schlüsselindustrien Europas, insbesondere rund um die Wasserversorgung, zu sichern.

Deutschlands Alt-Bundespräsident Roman Herzog hielt 1997 eine Grundsatzrede in Berlin mit dem berühmten Zitat „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“. – Heute macht es Sinn, in diesem Zitat „Deutschland“ durch „Europa“ zu ersetzen. Mit einem Ruck müssen wir aktiv werden, dringend handeln und uns auf die europäischen Märkte konzentrieren und sie stärken. Gerade hinsichtlich der unentbehrlichen Wasser- und Energieversorgung mit der unterirdischen Infrastruktur, den sensiblen Lebensadern unserer Städte und Gemeinden, sind wir bestens aufgestellt. Worauf wollen wir noch warten? Wir haben es in der Hand, den europäischen Markt zu fördern, zu stabilisieren und zu sichern – ökologisch, ökonomisch und generationengerecht.

Literatur

[1] RICHTLINIE 2014/25/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG.

[2] Verordnung über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen im Bereich des Verkehrs, der Trinkwasserversorgung und der Energieversorgung (Sektorenverordnung – SektVO). Sektorenverordnung vom 12. April 2016 (BGBl. I S. 624, 657), die zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 12. November 2020 (BGBl. I S. 2392) geändert worden ist.

[3] Bundesgesetz über die Vergabe von Aufträgen (Bundesvergabegesetz 2018 – BVergG 2018)

[4] COMMUNICATION FROM THE COMMISSION
Guidance on the participation of third-country bidders and goods in the EU procurement market
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52019XC0813(01)&from=EN