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Das Boden-Rohr-System BoRSiS

Ein Schwammstadt-Element im Straßenraum

Trotz vieler Bemühungen, den menschengemachten Klimawandel zu verlangsamen und die globale Erwärmung auf unter 2  °C, idealerweise sogar auf 1,5  °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, schreitet der Klimawandel ungehindert voran. Auch vor diesem Hintergrund wird die Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen an die Folgen des Klimawandels immer wichtiger. Insbesondere Städte stehen vor großen Herausforderungen. Langanhaltende Hitzeperioden in Verbindung mit Trockenperioden auf der einen sowie Starkregenereignisse auf der anderen Seite erfordern veränderte Strategien für Planung, Bau und Betrieb der städtischen Infrastrukturen. Während Lösungen an der Oberfläche, wie z. B. die Identifikation von oberflächigen Fließwegen, die Gestaltung von Regenrückhalteräumen an der Oberfläche in die wasserwirtschaftliche Praxis Einzug gehalten haben, besteht eine große Herausforderung darin, das Stadtgrün als Klimaanpassungselement einzubeziehen.

Gemeinsame Lösungen für Niederschlagswasser und Vegetation stehen dabei unter dem Stichwort „Schwammstadt“ im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Projekte rund um „Baumrigolen“ zeigen anhand des Positionspapiers Wassersensible Straßenraumgestaltung [1] der Grünflächenamtsleiterkonferenz (GALK), dass die Lösungsfindung konfliktbehaftet sein kann. Grundsätzlich sind Lösungen anzustreben, die zum einen mehr Raum für die Wurzeln und zum anderen mehr Raum für das Regenwasser bieten. Hierfür existiert ein großes Potenzial durch die Einbeziehung von unterirdischen Elementen im Straßenraum für Anpassungsmaßnahmen. Vor diesem Hintergrund kann das am 1. Oktober 2021 gestartete Forschungs- und Entwicklungsprojekt Boden-Rohr-System als innovatives Element der klimaangepassten Stadtentwässerung (BoRSiS) eingeordnet werden. Das Projekt hat das Ziel, eine innovative und praxisnahe Bauweise für die Speicherung und Versickerung von Niederschlagswasser und zur Bewässerung von Stadtbäumen zu entwickeln. Somit werden zwei wesentliche Aspekte der Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel gemeinsam betrachtet.

Die Bauweise bietet einerseits einen Speicherraum für Niederschlagswasser bei (Stark-) Regen, andererseits stellt es das gespeicherte Niederschlagswasser Bäumen zeitverzögert zur Verdunstung zur Verfügung. Durch die Nutzung von Leitungsgräben steht ein linienförmiger erweiterter Speicher für Niederschlagswasser sowie ein Baumstandorte verbindender Wurzelgraben zur Verfügung, ohne dass ein zusätzlicher Platzbedarf auf der Oberfläche erforderlich ist. Zudem liegt ein weiterer Schwerpunkt auf dem Einsatz kreislauffähiger Produkte.

Die Projektstruktur

Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Wasserwirtschaftlern, Geotechnikern, Ökonomen, Baumexperten und Industriepartnern wird ein ganzheitlicher, innovativer Lösungsansatz entwickelt, dessen praxisnahe Umsetzung zur Lösung wichtiger gesellschaftlicher Problemstellungen beiträgt, die als Folge des Klimawandels auftreten. Wie in Abb. 1 dargestellt ist, gliedern sich die Arbeiten in fünf Arbeitspakete (AP). Dabei stellt das ganzheitliche Starkregen- und Klimaanpassungskonzept den übergeordneten Rahmen dieses Projektes dar. In den weiteren AP werden fachspezifische, relevante Fragestellungen untersucht und Lösungsansätze erarbeitet, die wiederum in das Gesamtkonzept einfließen:

  • Über die komplette Projektlaufzeit hinweg werden die Arbeiten in den einzelnen AP durch die Industriepartner fachlich begleitet.
  • AP 1 und 2 werden dabei vom Fachbereich Siedlungswasserwirtschaft des Instituts Bauingenieurwesen an der Hochschule Ruhr West abgedeckt. In den Arbeitspaketen werden ein ganzheitliches Starkregen- und Klimaanpassungskonzept, sowie eine Wasserbilanzierung erstellt.
  • Die im AP 3 verorteten wasserbaulichen Untersuchungen werden in einem Versuchsstand durch die Fachhochschule Bochum abgedeckt.
  • Im AP 4 werden geotechnische Untersuchungen durch das Institut Bauingenieurwesen der Hochschule Ruhr West im Fachbereich Geotechnik abgedeckt.
  • Das Wirtschaftsinstitut der Hochschule Ruhr West beschäftigt sich mit den ökonomischen Fragestellungen des Projekts im AP 5.
  • Das Sachverständigenbüro für urbane Vegetation begleitet alle AP eng in der Konzeptionierung, der Versuchsdurchführung, der Ausarbeitung von Handlungsempfehlungen sowie in der Vorplanung des Pilotprojekts. So wird zu allen Phasen des Projekts sichergestellt, dass keine baumökologischen Fehlplanungen untersucht und umgesetzt werden.
  • Durch die Stadt Detmold als Anwender werden die konkreten Rahmenbedingungen für eine spätere reale Umsetzung in einem Pilotprojekt vorgegeben sowie entsprechendes Datenmaterial zur Verfügung gestellt. Weitere konkrete Pilotprojekte werden in Köln und Leichlingen geplant. Zudem gibt es bereits Interessensbekundungen (LOIs) aus den Städten Solingen, Wuppertal und Düsseldorf.

Das Projekt ist bis September 2024 geplant. Finanziert wird es durch Eigenanteile der Industriepartner EADIPS®/FGR® e.  V. [2] und ROCKWOOL Regenwassersysteme [3] sowie durch eine Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Förderprogramm „Forschung an Fachhochschulen“ unter dem Förderkennzeichen 13FH002KA0.

Organigramm Projekt BoRSiS

Organigramm des BoRSiS Projekts.

Das Boden-Rohr-System

Beim Boden-Rohr-System werden vor allem die Eigenschaften der in den Leitungsgräben verwendeten Bettungs- und Füllmaterialien in Kombination mit einem robusten Rohrsystem aus kreislauffähigen Werkstoffen zusammen mit einem kreislauffähigen Rigolensystem in den Mittelpunkt der Planung gestellt (vgl. [4]). So ist es möglich, Leitungsgräben als Speicher für Niederschlagswasser und erweiterten Wurzelraum für Stadtbäume zu nutzen, ohne dass eine zusätzliche Konkurrenz um den Raum an der Oberfläche oder im bereits intensiv genutzten Gehwegsbereich entsteht.

Um den bisher ungenutzten Leitungsgraben als Speicher für Niederschlagswasser und Wurzelraum nutzen zu können, ist somit eine Abkehr von der bisherigen Praxis erforderlich:

  • Derzeit werden die Stoffe zum Verfüllen der Leitungsgräben lediglich so ausgewählt, dass sie sehr gut verdichtet werden können, um eine stabile Bettung der Rohre zu gewährleisten.
  • Wurzeln sollen, z. B. auch durch porenarme Verfüllstoffe (vgl. [5]) als Schutzmaßnahme gegen Wurzeleinwuchs, vom Leitungsgraben ferngehalten werden.
  • Die Einleitung von Regenwasser in den Leitungsgraben ist nicht vorgesehen.
Boden-Rohr-System im Straßenraum

Das Boden-Rohr-System im Straßenraum.

Die im Boden-Rohr-System verwendeten Elemente zur Gestaltung des Wurzelraums orientieren sich am Regelwerk DWA-M 162 „Baumstandorte, Kanäle und Leitungen“ [5]. Darin beschrieben sind zwei unterschiedliche Maßnahmen, um das Miteinander von Baumwurzeln und den Elementen der unterirdischen Infrastruktur zu organisieren. Beim Schutz der Elemente der unterirdischen Infrastruktur wird zwischen passiven und aktiven Schutzmaßnahmen unterschieden.

  • Passive Schutzmaßnahmen
    sind solche, die im direkten Bereich von unterirdischen Leitungen bzw. Leitungsgräben er-
    griffen werden. Der geeignete Zeitpunkt ist bei Neubau der unterirdischen Leitungen, da dann kein gesonderter Straßenaufbruch erforderlich ist. Die Wahl der Schutzmaßnahme hängt von den örtlichen Verhältnissen ab [5]. Zu den gelisteten und für das Boden-Rohr-System genutzten passiven Schutzmaßnahme gehören wurzelfeste Rohrverbindungen.
  • Aktive Schutzmaßnahmen
    sind solche, die im unmittelbaren Bereich des Baums bzw. der Pflanzgrube stattfinden. Sie können am besten bei der Neupflanzung von Bäumen durchgeführt werden. Die Wahl der Schutzmaßnahme sollte dabei von den örtlichen Verhältnissen und hier insbesondere von der Lage der benachbarten unterirdischen Leitungen abhängen [5]. Eine gelistete aktive Schutzmaßnahme sind Wurzelgräben, die dazu dienen, Wurzeln außerhalb der Pflanzgrube, z. B. zu anderen durchwurzelbaren Bereichen zu führen. Hierzu werden vegetationstechnisch günstige Bedingungen geschaffen.

Als Speicher für das Niederschlagswasser wird oberhalb des Wurzelraums ein Rigolenkörper aus Steinwolle (Rockflow) angeordnet.

Funktionsweise des Boden-Rohr-Systems
Durch eine verzögerte Abgabe von Niederschlagswasser aus dem über dem Wurzelraum angeordneten Niederschlagswasserspeicher können Bäume auch während langanhaltender Trockenperioden bewässert werden. Damit dies möglich ist, werden die Wurzeln von Bestandsbäumen oder neu gepflanzten Bäumen durch vegetationstechnische Maßnahmen dazu angeregt, in Richtung des Wurzelraums im Leitungsgraben zu wachsen. Die Lage des Boden-Rohr-Systems im Straßenraum sowie die Ausbreitung des Wurzelwerks ist beispielhaft in Abb. 2 dargestellt. Auch die Anbindung von Baumrigolen und die Vergrößerung der Wurzelräume ist möglich und gewünscht (vgl. Abb. 3).

Das Zusammenwirken von Bewässerung und erweitertem Wurzelraum wird die Vitalität, die Wachstumsbedingungen und die Lebenserwartung der Bäume an den städtischen Standorten verbessern. Vitale und große Bäume haben einen positiven Effekt auf das Stadtklima, indem sie durch die Verdunstung von Wasser und das Spenden von Schatten helfen, urbane Hitzeinseln zu minimieren. Zusätzlich ist zu erwarten, dass der Pflegeaufwand, z.  B. in Form der Bewässerung der Bäume in Trockenperioden mit Trinkwasser entfallen kann.

Wurzelräume für Stadtbäume
Der Einfluss des zur Verfügung stehenden Wurzelraums auf das Wachstum der oberirdischen Teile von Stadtbäumen muss gesondert betrachtet werden. Dieser Zusammenhang ist in Abb. 4 dargestellt. Die nicht maßstäbliche Darstellung basiert auf einem Berechnungsansatz von J.W. Bakker und J. Kopinga zur Abschätzung des maximalen Wurzelraums auf Basis der projizierten Kronenfläche. Ergänzend sind die minimalen Pflanzgrubengröße nach FLL (12 m³) [7], die Pflanzgrubengröße nach ZTV-Vegtra-Mü (24 m³) [8] bzw. für Baumrigolen [9] und das Boden-Rohr-System dargestellt. Der Zusammenhang ist sehr einfach. Je größer der durchwurzelbare Boden ist, desto größer ist auch das Kronenvolumen. Neben den kühlenden Effekten durch Verdunstung und Beschattung durch eine verbesserte Begrünung der Städte erhöht sich die Lebensqualität [10]. Außerdem tragen die Bäume zum Erhalt der Artenvielfalt bei [11].

Die Unterschiede im Wuchsverhalten zweier zum selben Zeitpunkt gepflanzter Bäume ist in Abb. 5 dargestellt. Während der Wurzelraum des rechts dargestellten Baums durch angrenzende Gehwege, eine Parkbucht und eine Straße eingeschränkt wird, können sich die Wurzeln des Baumes links, in der Grünfläche besser entwickeln.

Zusammenwirken von Baumrigolen und Boden-Rohr-System

Zusammenwirken von Baumrigolen und Boden-Rohr-System mit Konstruktionsdetails des Boden-Rohr-Systems (entnommen aus [6]).

Großbaum: durchwurzelbares Bodenvolumen

Zusammenhang zwischen dem durchwurzelbaren Bodenvolumen und dem oberirdischen Wachstum von Großbäumen.

Einfluss der Standortbedingungen auf das Wuchsverhalten

Einfluss der Standortbedingungen auf das Wuchsverhalten von Platanen durch Vergleich zweier zum selben Zeitpunkt gepflanzter Bäume.

Robustheit und Wurzelfestigkeit von Rohrsystemen
Ein Kernelement des Boden-Rohr-Systems sind duktile Guss-Rohrsysteme. Insbesondere deren robuste mechanische Eigenschaften im Zusammenspiel mit wurzelfesten Rohrverbindungen sorgen für einen sicheren Betrieb auch unter den oben beschriebenen veränderten Einwirkungen.

Rohrsysteme aus dukilem Gusseisen werden im europäischen Normungs-Komitee CEN / TC 203 Cast iron pipes, fittings and their joints genormt. Bereits frühzeitig haben die Mitglieder des Komitees damit begonnen, die Regelwerke in Richtung von Schwammstadt-Anwendungen weiterzuentwickeln. Dies geschah auch vor dem Hintergrund einer europaweiten Umsetzung der im Rahmen des BoRSiS-Projekts zu entwickelnden Bauweise mit duktilen Gussrohren. So befinden sich aktuell folgende Regelwerke in der Überarbeitung, der Endabstimmung bzw. in der Entwicklung:

  • Die EN 15542 [12] für die Zementmörtel-Umhüllung von duktilen Gussrohren wird gerade überarbeitet.
  • Die prEN 17970 [13] beschreibt erstmals ein Prüfverfahren zum Nachweis der Wurzelfestigkeit von gesteckten und diffusionsdichten Rohrverbindungen.

In das Arbeitsprogramm des TC 203 wurde die Entwicklung eines technischen Regelwerks für Schwammstadt-Anwendungen aufgenommen. Die Ergebnisse des hier beschriebenen Projekts fließen direkt in das zu erarbeitende Regelwerk ein.

Das Boden-Rohr-System im Straßenraum

Den grundsätzlichen Aufbau des Boden-Rohr-Systems im Straßenraum mit Querschnitt, Aufsicht und Längsschnitt veranschaulicht Abb. 6. Die Abbildung dient auch als Diskussionsgrundlage für die Planung und den Bau von Pilotmaßnahmen beim Projektpartner Stadt Detmold sowie in den Städten Köln und Leichlingen. Insbesondere bei den Besprechungen vor Ort sowie bei Projektsitzungen werden neben den bau- und vegetationstechnischen Fragestellungen auch Fragen nach Vorbehandlung des eingeleiteten Niederschlagswassers, der Speicherkapazität der Steinwolle, der Verringerung des Speicherraums im Wurzelraum durch das Wurzelwachstums, der wasserrechtlichen Genehmigungen sowie des dauerhaften Betriebs des Boden-Rohr-Systems intensiv diskutiert.

Grundsätzlich ist bei allen Gesprächen die Bereitschaft erkennbar, gemeinsam Lösungen für die immer drängender werdenden Herausforderungen durch die Auswirkungen des Klimawandels zu erarbeiten.

Aufbau des Leitungsgrabens
Boden-Rohr-System im Straßenraum

Das Boden-Rohr-System im Straßenraum. Links: Aufbau des Leitungsgrabens von oben nach unten mit Steinwolle-Elementen, grobkörnigem, gut belüftbaren Substrat und duktilem Gussrohr.

Zusammenfassung

Das am 1. Oktober 2021 gestartete Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Boden-Rohr-System als innovatives Element der klimaangepassten Stadtentwässerung (BoRSiS)“ befindet sich gerade im letzten Drittel der Projektbearbeitung und wird voraussichtlich nach dreijähriger Laufzeit am 30. September 2024 beendet sein. Die bisher erarbeiteten Ergebnisse sind vielversprechend.

Die Nutzung des ansonsten ungenutzten Raumes im Leitungsgraben von Abwasserleitungen bietet sowohl Chancen zur Ausbildung eines erweiterten Wurzelraums (>> 36 m³) als auch die Schaffung eines ähnlich großen Speichers für Niederschlagswasser. Bei der Umsetzung des Systems kann Bäumen im Bestand und auch bei Neupflanzungen ausreichend Wurzelraum zur Verfügung gestellt werden. Dies bietet Chancen für vitale Bäume in Zeiten des Klimawandels. Der zur Bewässerung oberhalb des Wurzelraums angeordnete Niederschlagswasserspeicher sichert zudem auch während längerer Trockenperioden die Wasserversorgung. Die in Planung befindlichen Pilotanwendungen in Detmold, Köln und Leichlingen werden dazu dienen, die Bauweise des Boden-Rohr-Systems im Detail weiterzuentwickeln. Die flankierende Weiterentwicklung der Regelwerke für duktile Guss-Rohrsysteme im CEN TC 203 wird dazu dienen, die Umsetzung der Bauweise vor Ort zu erleichtern.